Hallo Du!
Neulich habe ich von Dami Charf, die ich sehr schätze, mal wieder einen Beitrag gehört, worin der Begriff Spannungstoleranz fiel. Der folgende Text ist durch meine Auseinandersetzung mit diesem Begriff entstanden.
Spannungstoleranz ist eine wertvolle Fähigkeit, die Handlungsspielräume ermöglicht und auf sicheren Bindungserfahrungen aufbaut. Nicht alle haben das Glück gute Bindung in der frühen Kindheit erfahren zu haben. Um so wichtiger ist es, sich Zeit zu nehmen und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln und zu lernen, sich zunehmend mehr regulieren zu können, wenn wir in bestimmten Phasen unseres Lebens emotional gefordert, getrennt und uns überfordert fühlen.
Dami Charf spricht von Spannungstoleranz im Zusammenhang mit einem NEIN, und das ein Nein immer ein Spannungsfeld erzeugt, welches vielen Menschen so unangenehm ist, dass sie mit allen Mitteln versuchen, ein Nein zu vermeiden. Das heißt, entweder kein Nein zu äußern, oder das Risiko zu vermeiden, ein Nein zu bekommen.
Ich vermute mal, dass du das auch kennst.
Spannungstoleranz – wo kommt sie noch zum tragen?
Wenn wir uns an früher erinnern, an die Zeit, als wir vielleicht noch an das Christkind glaubten, dann kannst du dich vermutlich auch noch erinnern, wie aufregend die Zeit „vor der Bescherung“ war und wie es manchmal schwer auszuhalten war, bis es endlich klingelte und sich die Tür für uns Kinder zur Bescherung öffnete…
Auch kann ich mich erinnern, wie lange ich früher für so manch einen Wunsch gespart habe und wie viel „Spannungstoleranz“ ich bis zur Erfüllung mancher Wünsche in mir brauchte.
Irgendwann hat sich da was geändert. Es scheint, als ob der Zeitgeist sich dahin gehend entwickelt hat, dass Wünsche sofort in Erfüllung gehen müssten und durch diese schnelle Erfüllung die Fähigkeit, mit der Spannung bis zur Erfüllung der Wünsche umzugehen, seltener notwendig geworden ist. Heute kann man alles sofort bestellen, mit Raten zahlen, mit einem Wisch auf dem Handy Partner:innen wechseln und die Lieferung bestellter Konsumartikel über Nacht ist möglich geworden.
In diesem nicht-halten-können, bzw. jetzt-sofort-haben-wollen – wird der Mangel an Spannungstoleranz deutlich, der möglicherweise auch ein Ausdruck von fehlendem (Ur-)vertrauen ist. Leider hat dieses Urvertrauen nicht jede:r „in die Wiege gelegt bekommen“.
Spannung im zwischenmenschlichen Kontakt
Reagieren wir in Begegnungen aus dem Affekt heraus, handeln wir oftmals aus einem sehr jungen Anteil in uns – unserem inneren Kind, das sich nicht anders regulieren kann, als Druck/Spannung möglichst unmittelbar loszuwerden. Je nach Art, wie der Druckabbau geschieht, können daraus Schuldgefühle, Scham und Angst entstehen, was wiederum Spannung auslöst. Nicht selten nehmen durch solche kindlichen Reaktionsmuster Beziehungen ernsthaften Schaden.
Auch das Warten auf eine Antwort kennt vermutlich jede:r. Und das nicht nur in frisch verliebten Zeiten. Du schreibst eine persönliche Nachricht an eine Person, die wichtig ist und für dich Bedeutung hat. Die Person, der du diese Nachricht geschickt hast, reagiert nicht schnell genug für dein Nervensystem. Auch hier wird deutlich, wie der Druck steigt und die Stimmung langsam aber sicher in den Keller geht. Je instabiler die Bindungserfahrungen in deiner Kindheit waren, desto schwerer fällt es dir vermutlich hier im Vertrauen zu bleiben und diese Spannung zu regulieren. Oder du hast dich auf eine Stelle beworben, möchtest eine bestimmte Wohnung bekommen… All dies will (aus-)gehalten werden.
Spannungstoleranz in Zeiten der Veränderung
Als Thema taucht Spannungstoleranz auch auf, wenn wir Gewohntes verlassen und wir auf unvertrautem, neuen Terrain unterwegs sind. Wenn es darum geht, in Zeiten der Veränderung offen zu sein für den Wandel und das was kommen will, es jedoch gerade nichts dafür zu tun gibt. Auch dabei entsteht Spannung, die gehalten und reguliert werden will.
Beispiele für Veränderungen wo Spannungstoleranz gefordert ist können sein, wenn wir uns aus einer langjährigen Partnerschaft lösen, umziehen, oder den Arbeitsplatz wechseln. Das kann sein, wenn wir uns für Elternschaft entschieden haben und plötzlich mit Situationen konfrontiert sind, in denen wir Verantwortung für ein von uns gänzlich abhängiges Wesen haben und eigene Interesse hinten anstehen müssen.
Der Mangel an Spannungstoleranz zusammengefasst:
Etwas nicht oder schwer (aus-)halten zu können (hoher innerer Druck). Wunsch nach (Er-)lösung.
Ein Beispiel einer destruktiven Verhaltensweise in Zeiten von Stress und innerer Not
Zuweilen ertappe ich mich dabei, wie in Situationen die inneren Stress, Not und meist auch Schmerz in mir auslösen, ein Anteil von mir auf mich losgeht. Ein Anteil, der mich dafür verantwortlich macht, dass ich mich in diese Situation gebracht habe und mir noch zusätzlich Druck macht und Schuld- und Schamgefühle in mir auslöst. Statt Wohlwollen und Unterstützung, gibt es noch eins drauf – und es ist erstaunlich, wie dieses übernommene Muster aus meiner Kindheit immer noch aktiv am wirken ist. Besonders dann, wenn ich erschöpft bin und sowieso dünnhäutig.
Spannungstoleranz vermeintlich erweitern über Vermeidung: Dämpfung/Süchte
Eine Möglichkeit um die Spannungstoleranz – leider nur scheinbar – zu erweitern, ist jene, sich zu betäuben und/oder abzulenken um nicht zu fühlen. Betäubung nimmt Druck. Weshalb jegliche Formen um nicht odere weniger zu fühlen auch so verbreitet sind. Mit Süchten meine ich z. B. Sucht nach Konsum, Sex, Nikotin, Alkohol, Drogen, Medien, Beziehungen, Arbeit, Sport etc. p.p.
Dass Sucht niemals eine gute Lösung ist, brauche ich vermutlich nicht zu schreiben. Nicht nur erst dann, wenn aus der Sucht ein Suchtdruck entsteht. Wenn es äußerliche Gründe gibt um der Sucht nicht nachgehen zu können, bzw. diese zu bedienen. Oder es immer mehr braucht, um zu unterdrücken, was unsere Aufmerksamkeit und unsere Zuwendung bräuchte. Dann ist sie wieder da, die Spannung, und das Thema Spannungstoleranz, und der Mangel an Spannungstoleranz zeigt sich erneut.
Die gute Nachricht – das Erlernen neuer Umgangsweisen mit sich selbst ist möglich! Doch, wie könnte das gehen?
Zuwendung statt Verurteilung. Über einen wohlwollenden, mitfühlenden Selbstkontakt zur Selbstregulation – als ein Akt der Selbstliebe.
Bei mir ist es so, dass ich immer öfter, mit etwas Abstand und zeitnaher am aktuellen Auslöser meine Betroffenheit, über den (frühen) Mangel an Mitgefühl, sicherer Bindung und Liebe zulassen kann. Und auch meine Erschütterung darüber, wie ich zuweilen mit mir umgehe. Über mein weicher mit mir werden, weicht zusätzlicher Druck, Regulierung wird möglich und die Spannung erfährt Anerkennung. All das braucht Zeit, ein tagtägliches Üben und wird mich mit meiner Geschichte ein Leben lang als herausforderndes Thema begleiten.
Wenn wir lernen zu (mitzu-)fühlen, können wir immer zeitnaher mitbekommen, wo es etwas für uns braucht und uns um uns kümmern. Uns selbst dort abholen, wo wir gerade innerlich „gestrandet“ sind.
Wir können mehr und mehr herausfinden, wie wir uns beistehen können und uns ggf. therapeutische Begleitung hierfür suchen. Das braucht unser ernsthaftes Interesse, Beharrlichkeit, Geduld und Zeit.
Das Kind in uns will sofort (Er)Lösungen. Es mangelt ihm altersgemäß an Weitblick. Spannung (aus)halten fällt schwer, Vertrauen möglicherweise auch. Diesen jungen Anteil in uns liebevoll und verantwortlich führen zu lernen, ist unsere Aufgabe als erwachsener, bewusster, verbundener Mensch.
In der Trauma Therapie gibt es den Begriff: **Window of tolerance **zum Thema Spannungstoleranz
Er beschreibt die Fähigkeit sich zwischen Reiz und Reaktion eine Pause zu ermöglichen, die allmählich über unser heiler werden und bewusstes Üben, größer wird. Die Pause ermöglicht uns, nicht sofort zu reagieren und ist eine unmittelbare Folge von zunehmender Spannungstoleranz.
Oder anders ausgedrückt:
Milde, sich selbst begleitend, innehalten, atmen, Zuwendung fern von Druck. Da sein – für sich. Spannung als eine menschliche Empfindung anerkennen – den Kampf dagegen beenden. Und nach der Phase des sich Einfühlens und Anerkennens (das kann über mehrere Stunden immer wieder gefordert sein) in Bewegung kommen und eine Möglichkeit schaffen, damit die restliche Erregung ihren sympathikotonen körperlichen Ausdruck finden und abfließen kann.
FEEL, KISS, FLOW (v. Chamelie Ardargh)
Um das zu lernen kann es sehr unterstützend sein, sich Zeit in Erfahrungsräumen zu ermöglichen, wo der Raum im Außen wohlwollend gehalten ist und Menschen sind, die dir wahrhaftige Spiegel und Gefährte:in sind damit neue hilfreiche Lernerfahrungen gemacht werden können auf dem Weg zu einem erwachsenen, liebenden Menschen.
Gerne begleite ich dich dazu ein (weiteres) Stück deines Weges.