Neulich in der Klinik stellte ein Klient die Frage: "Frau Schröder, wie geht das mit dem Spüren?"
Hm - ja, wie geht das mit dem Spüren - und warum haben es viele von uns so schwer damit?
Geschichten zum Fühlen
Als wir noch klein waren und in der totalen Abhängigkeit zu unseren Bezugspersonen, fühlte sich bei dem einen oder anderen so manches lebensbedrohlich an.
Ein Säugling, der aus Hunger weint und damit ignoriert wird, weil z. B. die aktuellen Erziehungsmethoden einen bestimmten Rhythmus für sinnvoll erachten, kann nicht verstehen, warum niemand kommt. Er erfährt im Extremfall die Angst zu sterben. Für einen Säugling ist das ein reales Erleben, da er sich nicht selbst versorgen kann.
Um von frühkindlichen bedrohlichen Gefühlen nicht überwältigt zu werden, trennen wir uns von unserem Fühlen. Das ist an sich ein genialer Schutz- und Bewältigungsmechanismus.
Ein anderer Auslöser für das Verlernen vom Spüren bestimmter Gefühle ist, wie wir über unsere Familie und unser Umfeld sozialisiert werden. Das, was wir an Konzepten von Gut und Böse - Richtig und Falsch - Akzeptabel und Inakzeptabel erlernen. Selbst ganz kleine Kinder erkennen, dass sie für das, was akzeptabel ist, geliebt und belohnt werden, und dass sie verlassen oder bestraft werden, wenn sie etwas Inakzeptables tun.
So wird auch hier eine Überlebensstrategie wirksam. Das, was wir in unserem sozialen Umfeld als inakzeptabel erleben, übernehmen wir als inakzeptabel. Es wird abgespalten und ins Unterbewusstsein verdrängt.
Ein persönliches Beispiel
Von mir kann ich sagen, dass Traurigkeit eines der Gefühle war, welches in meiner Herkunftsfamilie nicht willkommen war. Dieses Gefühl verschwand als Folge davon von meiner Gefühlspalette - was nicht heißen soll, dass da keine Trauer war. Doch eben abgespalten - nicht mehr spürbar.
Auch heute noch fällt es mir schwer zu erkennen, wenn ich traurig bin. Da wird gekämpft, gerungen, argumentiert, gehadert, analysiert, da bin ich am verzweifeln - bis ich erkenne: Ich bin "einfach" traurig!
Sobald ich das erkenne, verändert sich etwas in meinem Körper. Plötzlich geht etwas auf. Die Trauer darf mich berühren und von einem Moment zum anderen fühle ich mich gesegnet, nah bei mir, Tränen dürfen fließen, mir wird es warm ums Herz. Der ganze innere Druck kann mit einem Mal abfließen. Für mich ist das immer wieder ein großes Wunder. Und so verrückt das klingen mag, ein Grund zur Freude.
Ich werde zunehmend vertrauter mit dem Gefühl Trauer und diese Gefühlsqualität wird mit jedem Mal mehr ein Teil von mir, kann sich integrieren und ich dabei heiler werden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Unter "heilen" verstehe ich nicht, dass es dann gut ist mit der Trauer. Mit "heilen" meine ich nicht: "Haken dahinter." Ich meine nicht: „Jetzt bin ich durch“ – „Trauer verstanden, brauche ich jetzt nicht mehr.“
Unter heilen verstehe ich, damit sein zu können und mich selbst damit als liebenswert zu erfahren.
Wie funktioniert das mit dem Spüren?
Jeder Gefühlszustand geht im Körper mit einer eindeutigen, ganz spezifischen Empfindung einher, so wie ein Bissen Essen eine ganz bestimmte, eindeutige Geschmackserfahrung erzeugt.
Wie verhindern wir Entwicklung?
Eine bewährte Methode um Spüren zu unterdrücken ist, die Luft anzuhalten und damit Schutzmechanismen aufrecht zu erhalten. Oder jegliche Form von Ablenkung: Konsum verschiedenster Art, Süchte.
Wenn wir in unseren Schutzmechanismen verhaftet bleiben, können wir als Erwachsene keine neuen, positiven Erfahrungen im Umgang mit den eigenen Gefühlen und im Kontakt mit anderen machen. Wir reagieren zwar sehr sensibel auf das ein oder andere im Gegenüber, sind jedoch nicht in der Lage diese Gefühle als unsere anzunehmen und zu integrieren. Je unbewusster wir sind, desto eher bleiben wir mit dem Gegenüber beschäftigt und sind leider viel zu oft im Dramadreieck von Opfer, Täter oder Retter gefangen.
Unser unbewusster Schutzmechanismus wirkt immer noch aus der Sicht eines Kindes und verhindert heilsame Erfahrungen. Wir spüren den eigenen Körper nicht, wir denken unser Fühlen anstatt zu fühlen. Wir projizieren: "Weil der das getan...." "Weil die das gesagt...." etc. - "deswegen geht es mir jetzt schlecht!" Wir stellen unbewusst Fettnäpfchen auf, die die Menschen um uns herum auf Abstand halten, fühlen uns chronisch missverstanden, suchen Schuldige und verzehren uns gleichzeitig nach Nähe.
Sicher ist, solange wir mit Schuld und Recht haben beschäftigt sind, drehen wir uns dabei im Kreis.
Durch Schattenarbeit Licht ins Dunkel bringen
Viele der überwältigenden Gefühle im Leben eines Erwachsenen sind nicht lebensbedrohlich und doch fühlen sie sich immer noch so an. Es fehlt an positiven Erfahrungen im Umgang mit unseren eigenen intensiven Gefühlen. Dieser Schmerz, an dem wir festhalten, kann nur geheilt und assimiliert werden, wenn wir bereit sind und den Mut haben, unsere Aufmerksamkeit zurück auf das Kind zu richten, welches damals erstarrt ist.
Und ja, in unserem Menschsein gibt es vielerlei, was erinnert und schmerzt – Trauer, Wut, Scham, Verzweiflung, Angst, Isolation, Wertlosigkeit, Verlorenheit, Ohnmacht - um nur ein paar der unangenehmen Gefühle zu nennen. Da ist so einiges, was wir lieber nicht spüren wollen. Und wir tun vieles, haben mannigfaltige Vermeidungsstrategien, um diesem "Weh" auszukommen.
Doch auf Dauer macht uns das krank und unzufrieden. Das ist der Moment wo wir anfangen ernstgemeinte Fragen zu stellen und beginnen uns auf den Weg zu machen. Denn Gefühle sind zum Fühlen da.
Der Weg zu Integration und Heilung
Für mich ist der Begriff des radikalen Akzeptierens sehr hilfreich beim Spüren der eigenen Gefühle geworden. Und ich merke, das wird mir nur möglich, wenn ich aufhöre zu kämpfen (gegen mein Gegenüber oder gegen mich) und es wage innezuhalten. Wenn ich aufhöre wegzurennen - meine unterschiedlichsten Vermeidungsstrategien unterlasse, und den Mut und/oder genug Verzweiflung habe, um mich meinem Fühlen zu stellen. - Zuwendung!
Raus aus der Projektion, raus aus der Verurteilung (meiner selbst oder anderen), weg von dem aktuellen Auslöser (Trigger) - hin zu mir selbst! Bereit zu fühlen. Mit mir zu fühlen und gut (gütig) mit mir zu sein. Mir beistehen.
Für mich - ein tagtägliches, notwendiges und sinnvolles Übungsfeld. Ich kann nicht sagen, dass es leicht ist. Doch ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt sich dafür einzusetzen.
Für dein Leben - in Kontakt und Leidenschaft.
SAbine