Berührbare Grenzen

Grenzen

Berühbar mit GrenzenGrenzen bieten Schutz und haben eine wichtige Funktion, um uns überhaupt für Kontakt öffnen zu können. Doch manchmal begrenzen wir uns mit Gewohnheiten, die in der Vergangenheit nützlich waren, doch aktuell eher hinderlich sind für das, wonach wir uns eigentlich sehnen.

Dazu ein persönliches Beispiel von mir.

Ein mir vertrauter Schutz ist Stolz. Stolz macht unberührbar, Stolz sorgt für Trennung und damit für Abstand, Stolz ermöglicht mir, meinen Fluchtimpulsen zu folgen. Ich bewege mich zwar äußerlich nicht von der Stelle, doch innerlich gehe ich weg. Dadurch werde ich für mein Gegenüber unerreichbar. Äußerlich kühl, bin ich innerlich in großer Not. Doch dies darf keiner merken, „zu gefährlich“, hat mein innerer Aufpasser in frühen Jahren gelernt. Ich mache dicht. Werde unberührbar. „Du nicht“ lautet der innere Schwur. Stolz als ein Versuch, die Situation zu kontrollieren und unangenehme Gefühle zu vermeiden. Stolz auch als ein Versuch, die eigene Sprachlosigkeit zu kaschieren, um nichts Falsches zu sagen, mir keine Blöße zu geben.

Was sind deine Schutzreaktionen in herausfordernden Situationen? Wie sorgst du für Abstand?

  • Findest du dich in dem Clown wieder, dem Alleinunterhalter, der stets einen flotten Spruch auf den Lippen hat?
  • Oder trägst du ein imaginäres Schild vor dir her, auf dem steht: keine Zeit, jetzt nicht. Ist Überforderung dein Abstandshalter?
  • Oder neigst du dazu in persönlichen Gesprächen zu referieren und/oder zu missionieren. Erklärst du den anderen die Welt und findest so Schutz vor Nähe und Berührbarkeit?
  • Oder sind deine Schutzstrategien Rückzug und Resignation, die dir zu einer persönlichen Gewohnheit geworden sind?
  • Bist du jemand, der in allem ein „zu“ findet? Zu schnell, zu laut, zu langweilig, zu leise, zu dick, zu dünn..., und dadurch die Latte so hoch legt, dass es unmöglich wird, dir als Mensch zu begegnen?
  • Ist Angriff dein Schutz, um nicht berührbar zu sein, oder Zynismus?
    Oder findest du dich immer wieder in der Rolle des Retters…
    oder in der Rolle des Opfers wieder?

Was steckt hinter einer solchen Reaktion?

Oft sind Erfahrungen aus unserer frühkindlichen Geschichte Ursache für verschiedenste Ängste. Verletzung und Schmerz (physischem oder psychischem), Überforderung, ausgeliefert sein und Beschämungen sind Beispiele, die mir hierzu einfallen. Um diese Erfahrungen nicht ein weiteres Mal über sich ergehen lassen zu müssen, entwickeln wir Schutzstrategien, die in Form von rigiden, unberührbaren Grenzen dafür sorgen sollen, dass wir die Kontrolle behalten und vermeintlich Unangenehmes in Zukunft vermeiden können.

Was ist die Konsequenz?

Über diese rigiden Grenzen verhindern wir nicht nur mögliche unangenehme Erfahrungen, sondern auch Situationen und Begebenheiten, in denen wir uns entwickeln und neue, heilsame Erfahrungen machen könnten. Wir sind wie verhaftet in alten Geschichten.

Wahrhaftiger, spontaner Kontakt fällt schwer, bzw. ist nicht möglich.

Überdruss und Lust auf mehr

Je älter ich werde, desto klarer wird mir, wie diese Schutzmechanismen Entwicklung hemmen und für Trennung sorgen. Trennung in mir und Trennung im außen. Zum Glück gibt es da auch Überdruss in mir als Antrieb, mir meine Verhaltensmuster mal genauer anzuschauen. Kombiniert mit meiner langsam wachsenden Zivilcourage werde ich dabei zunehmend mutig. Ich vertraue mir mehr, und auch meinen Gefühlen. Das ist eine fundamentale Entwicklung. Ich lerne, wie lebendig, spannend und befreiend es sich anfühlt, an meinen Grenzen neue Erfahrungen zu sammeln. Ganz in meiner Zeit und in der Dichte, die mir in der jeweiligen Situation gerade möglich ist.

Berührbarkeit

Mit „berührbar“ meine ich, Gefühle und Emotionen im Moment wahrnehmen zu lernen, mit ihnen zu sein, ihnen zu begegnen. Mit jedem Mal, wo ich das wage, wächst etwas sehr spürbar in mir. Und darauf bin ich wirklich stolz. Ich erkenne an, dass ich ein berührbares Wesen bin, mit vielen unterschiedlichen Gefühlen. Ich entdecke jenseits dessen, was ich gelernt habe, dass nichts davon falsch ist. Alles gehört zu mir. Da gibt es Freude, Schmerz, Angst, Trauer, Ärger, Überforderung, Lust, Wut u. v. m. Die Erfahrung, mit all dem sein zu können, und ja, es auch aushalten zu können, (so seltsam es klingen mag: scheinbar bedrohliche Situation zu überleben.) ist immer wieder tief berührend und bereichert mein Leben enorm.

Im Mitgefühl mit mir selber finde ich Worte für mich und mein Befinden. Ich entdecke Grenzen neu und - ja, ich ent-wickle mich. Meine Handlungsspielräume werden größer.

Das fühlt sich klar an, zart und kraftvoll zugleich. Und ich entdecke, dass ich dort, wo es klare Grenzen braucht, dank dieser inneren Verbundenheit viel weniger kämpfen muss und mich bei weitem besser positionieren kann, als ich es je konnte.

Mich entscheiden zu können, immer wieder berührbar an scheinbar festgefahrenen Grenzen zu sein, das ist ein echtes Abenteuer.
Berührbare Grenzen - ein wichtiges Fundament für wahrhaftige Begegnung. Sie bieten die Möglichkeit, Trennung und Isolation in Kontakt und Leidenschaft zu wandeln.