Ärger – der kleine Bruder der Wut

Ganz ehrlich, ist es okay für Dich, wenn Du Dich ärgerst? Darfst Du ärgerlich sein, Ärger fühlen? Und darfst Du vor allem sichtbar damit sein? Und wie gehst Du damit um, wenn jemand Dir seinen Ärger zeigt.

Warum diese Fragen?
In der vergangenen Woche hatten wir in der Klinik eine Fallbesprechung und da hörte ich die Aussage: Ärger ist ein Kontaktangebot!

Das hat mich neugierig gemacht, und so begann ich damit zu forschen.

Auf Wikipedia finde ich unter Ärger: Verdruss, eine spontane, innere, negativ-emotionale Reaktion (Affekt) auf eine unangenehme oder unerwünschte Situation, Person oder Erinnerung. Das, was Ärger hervorruft - das Ärgernis - kann eine Frustration, etwa eine Kränkung sein. Unmut, Unbehagen oder Missmut sind die weniger erregenden Formen des Ärgers. Diese Emotionen sind als innere Reaktionen zunächst spontan und in aller Regel unvermeidbar. In unserer Kultur gilt das Zeigen von Ärger in der Regel als taktlos. Unter Erwachsenen wird Ärger tabuisiert und Kindern wird er oftmals abgesprochen. Ungehörig fällt mir dazu ein.

Bei der weiteren Recherche finde ich zahlreiche Artikel mit Tipps, Ärger zu negieren. Was mir bleibt, ist der Eindruck: Ärger zu empfinden ist ein Mangel und falsch. Ich finde wenig zum "Sein" mit Ärger.

Wie geht es mir mit Ärger, dem kleinen Bruder der Wut?

Sehr schnell wird spürbar, dass es da einen dominanten Teil in mir gibt - ich würde ihn meinem inneren Kritiker zuordnen - der Sich-ärgern-lassen als Schwäche, Makel und Tabu erlebt. Da gibt es Erinnerungen von Beschämung in der Kindheit, Geschwister oder andere Kinder können da so einiges dazu beitragen...ausgeliefert sein, fällt mir dazu ein. Phasenweise scheint das in meiner Erinnerung wie ein Sport: Wen man ärgern kann, über den hat man Macht. Kein Wunder, dass mein Kritiker mich hiervor schützen mag.

Wie reagiere ich, wenn ich mit offen gezeigtem Ärger konfrontiert bin?

Sofort wird ein Schutzmuster aktiviert, ich spüre Angst, halte die Luft an, werde starr. Meine gefühlte Temperatur sinkt innerhalb kürzester Zeit, ich friere innerlich ein, versuche mich taub zu machen. Gleichzeitig gibt es ein Programm, das mir hilft, im Außen das Gesicht zu wahren. Eine Strategie, um mich besser zu fühlen, ist die Verurteilung der Person, die sich mit ihrem Ärger zeigt. Und ich kenne auch das Rudern in mir nach Lösungen, um schnell wieder Harmonie herzustellen. Neuer in meinem Leben sind Sätze wie: "Ich stelle mich für eine Begegnung auf dieser Ebene nicht zur Verfügung", "Das brauche ich nicht". So "rettete" ich mich bisher und sorgte für Abgrenzung.

Wenn ich mir nun diese Aussage Ärger ist ein Kontaktangebot anschaue, dann sind meine bisherigen Strategien, mit Ärger umzugehen ein Ausweichen, begründet in meiner Angst, überrollt zu werden. Doch muss das wirklich immer so sein? Wie könnte ich mich an dieser Stelle weiterentwickeln? Was könnte mir helfen, bei der Konfrontation mit Ärger offener und zugewandter zu sein, und zugleich liebevoll mit dem ängstlichen Teil in mir in Verbindung zu bleiben?

Blickwickel zu verändern erlebe ich als hilfreiche Ausgangsbasis für das Entdecken neuer Handlungsmöglichkeiten. Zum Beispiel:

  • Ärger zu sehen als eine Investition/Engagement in etwas (Beziehung, Job, Umwelt etc.).
  • Ärger zu sehen als Ausdruck einer Not, einer Verzweiflung, eines Hilferufes - mit dem Risiko missverstanden und verurteilt zu werden.
  • Ärger zu sehen als mutigen Ausdruck eines authentischen, lebendigen Kontakts. Sichtbar. Ein Sich-zu-muten (anderen und sich selbst), Grenzen aufzeigend, Stellung beziehend. Mit dem Risiko, sich damit auch verwundbar und angreifbar zu zeigen.

Durch den Satz "Ärger ist ein Kontaktangebot" ist mir bewusst geworden:

Die Person, die sich mit ihrem Ärger zeigt, zeigt sich. Sie ist berührbar und alles andere als gleichgültig. Sie ist engagiert, ringt mit etwas, gibt etwas, bietet sich als Reibungsfläche/Kontakt an. UND - ich muss mich nicht auf dieses Kontaktangebot einlassen. Doch ich möchte mit diesen Gedanken einladen, genauer hinzuschauen. Es ist etwas anderes, wenn ich mich ehrlich bekenne, gerade nicht tiefer einsteigen zu wollen UND die Person mit ihrem Ärger wertzuschätzen, oder den/die andere Person für ihren Ärger zu verurteilen und/oder zu beschämen.

Es braucht Mut, ungeliebte Gefühle wie Ärger als Teil des Menschseins anzuerkennen und ihnen aufgeschlossen zu begegnen. Ärger als etwas Konstruktives, als ein Kontaktangebot, zu verstehen, braucht die Bereitschaft, die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Es braucht achtsame, wohlwollende Begegnungen, die Authentizität unterstützen und Menschlichkeit im miteinander möglich machen. Es braucht Menschen, die es wagen, "anstößig" zu sein.

Unsere Kultur bietet hierfür wenig. Die Folgen zeigen sich nicht zuletzt an der zunehmenden Zahl psychosomatisch erkrankter Menschen. Ärger als Schattenprinzip macht krank und einsam. Depressionen, Magengeschwüre, Bluthochdruck sind typische Folgen von Ärger, den Menschen runter schlucken und damit gegen sich selbst richten. Häufig sitzt tief in unseren Zellen das Bedürfnis, es allen recht machen zu wollen und ja nicht gegen vermeintliche Regeln zu verstoßen.

Über dieses Bewusstsein entsteht in mir Respekt für Menschen, die es wagen, Ärger zu fühlen und damit sichtbar zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt damit zu forschen, wie sich die Energie des Ärgers verändert, wenn er aus seinem Schattendasein ins Licht rücken darf.

Meine Dankbarkeit und mein Respekt gilt auch den Menschen, die als Gegenüber dableiben. Im Kontakt forschend, der sich ärgernden Person den Ärger lassend und selbst bereit zu fühlen, sich mitzuteilen und die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Was es braucht ist die Bereitschaft sich einzulassen und Zeit für Begegnung.

Mein Wunsch ist, das Ärger sein darf. Eigenverantwortlich und willkommen als ein Gefühl, das Teil unseres Menschseins ist. Ganz alleine geht das nicht. Es braucht positive Erfahrungen mit anderen Menschen. Erfahrungen, die es möglich machen, mit Ärger in Frieden zu kommen, so dass die Scham und die Angst über dieses Gefühl langsam dem tiefen Wunsch nach mehr Menschlichkeit, Authentizität und wahrhaftigerem Kontakt weichen kann.

Für ein Leben in Kontakt und Leidenschaft und voller Lebendigkeit.

Lebens- und liebesforschend

SAbine