Bindung * Beziehung * Berührbarkeit

Hallo Du!

Heute habe ich zu Beginn eine Geschichte für dich:

Jedes Jahr brachten Martins Eltern ihn in den Sommerferien zu seiner Großmutter und fuhren anschließend mit dem gleichen Zug wieder nach Hause.

Eines Tages sagte der Junge zu seinen Eltern:
"Ich bin jetzt schon groß. Ich mag dieses Jahr alleine zur Oma fahren!"

Nach kurzer Diskussion sind sich die Eltern einig. Sie bringen ihren Sohn zum Zug, stehen am Bahnsteig und geben ihm einen letzten Tipp auf den Weg, während Martin denkt: " Ich weiß, das habt ihr mir schon hundertmal gesagt...!"

Der Zug ist kurz vor der Abfahrt, als der Vater flüstert: "Mein Sohn, wenn du dich plötzlich schlecht oder verängstigt fühlst, dann habe ich hier dies für dich!" Und er steckt ihm etwas in die Tasche.

Der Zug fährt los. Der Junge sitzt alleine im Zug. Ohne seine Eltern, zum ersten Mal...

Er sieht aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Unbekannte um ihn herum hetzten, machen Lärm, kommen ins oder gehen wieder aus dem Abteil. Der Schaffner spricht ihn an, ob er alleine sei...Ein Mensch wirft im einen traurigen Blick zu. Der Junge fühlt sich zunehmend unwohler. Und jetzt bekommt er Angst.

Er senkt seinen Kopf, drückt sich in die Ecke des Sitzes, Tränen kommen ihm in die Augen.

Da erinnert er sich plötzlich daran, dass sein Vater ihm etwas in die Tasche gesteckt hat. Mit zitternder Hand sucht er danach und findet ein Stück gefaltetes Papier. Er öffnet es und liest:

"Mein Sohn, ich bin im letzten Wagen..."

(Verfasser unbekannt)

Wenn du diese Geschichte für dich zu Ende schreiben würdest, was wäre deine Variante?

So unterschiedlich unsere Biographien sind, so unterschiedlich lautet das Ende dieser Geschichte. Allein von den paar Menschen, die ich bisher dazu befragt habe, bekam ich von jedem einen anderen Aspekt zum Thema: Bindungssicherheit.

Wenn ich zu diesem Thema anfange zu recherchieren entdecke ich Aussagen wie:

  • Unsicher oder vermeidend gebundene Menschen können Angst und Ärger schlechter verarbeiten als sicher gebundene.
  • Sichere Bindung ist ein **Resilienzfaktor, sichere Bindung unterstützt die Emotionsregulierung.
  • Unsichere oder traumatische Bindungserfahrungen schränken die Fähigkeit zur Regulation des Nervensystems ein. Die Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen fällt dann schwer. Suchtverhalten wird begünstigt.
  • Die Bindungstheorie argumentiert, dass eine starke emotionale und physische Bindung zu einer primären Bezugsperson in unseren ersten Lebensjahren für unsere Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist. Wenn sich unsere Bindung stark und gefestigt anfühlt, fühlen wir uns ausreichend sicher, um die Welt zu erkunden.

Wie unsere frühe Kindheit unser Leben beeinflusst

Wenn es uns an frühen, sicheren Bindungserfahrungen fehlt, fühlen wir uns latent unsicher. Angst ist dann ein ständiger, oft auch unbewusster Begleiter. Unser Zutrauen in uns selbst ist gemindert und das wiederum lässt uns chronisch unsere Impulse zurückhalten, welche für unsere Spontanität, Kreativität und Lebendigkeit stehen. Wenn es gefühlt eng für uns wird, ziehen wir uns zurück und/oder erstarren. Es ist, als wenn wir voll auf der Bremse stehen würden und gleichzeitig Vollgas geben. Oder wir reagieren eher mit Kampf und einer Flucht nach vorn, brausen innerlich und äußerlich auf, wollen durchstarten (etwas, was uns unangenehm ist, hinter uns bringen).
Beides sind entweder Vermeidungs- oder Kompensationsreflexe, resultierend aus einem Mangel an Vertrauen, mit etwaigen Herausforderungen umgehen zu können.

Die fehlende Sicherheit im Innen suchen manche von uns dann im Außen. Beispielsweise stellen wir uns als besonders toll dar, um die innere Unsicherheit nicht zu spüren. Oder wir geben das Steuer für unser Handeln ganz aus der Hand und vertrauen lieber anderen Menschen als uns selbst. Wir legen die Verantwortung für unser Tun damit in fremde Hände - in die Hände von anderen Menschen, Autoritäten, Überzeugungs- und Glaubenssysteme, Politikern, Therapeuten oder Partnern. Oder wir betäuben uns über die mannigfaltigen Möglichkeiten von Sucht.

Vielleicht hast du ja Lust, dich mit einigen der Fragen zu befassen, die ich hier aufliste:

  • Wie gehst du gerade mit der herausfordernden Situation der Pandemie um?
  • Mit was und mit welchen Teilen in dir kommst du in Kontakt?
  • Ist es dir möglich immer wieder für dich zu sorgen? Im Innen wie im Außen?
  • Kannst du dich durch deine Gefühle und Emotionen navigieren?
  • Hast du Kontakt zu deinen Ressourcen?
  • Kannst du in dieser äußeren unsicheren Lage Sicherheit in dir generieren?

Der Weg der beherzten Kriegerin / des beherzten Kriegers

  • Traust du dich eine eigene Meinung zu haben und diese genauso, wie die Aussagen, welche dir "angeboten" werden, immer wieder bewusst zu hinterfragen?
  • Erlebst du dich als Teil des Ganzen?
  • Was könnte dein Beitrag in der aktuellen Krise sein?

Vermeidendes Verhalten ist Teil von frühen Überlebensstrategien, die oft unbewusst und automatisch ablaufen und neue, heilsame Erfahrungen verhindern oder begrenzen. In unserem System ist abgespeichert, dass wir mit diesem Verhalten in unserer frühen Vergangenheit schwierige Situationen bewältigt haben - und ein Teil in uns glaubt daher, dass dieses Verhalten, da es sich bewährt hat, nach wie vor eine gute Strategie sei.
Doch unsere Überlebensstrategien, die damals sehr sinnvoll waren und sicherlich das Beste was wir für uns tun konnten, (be-)hindern uns heute als Erwachsene.

Vermeidungsstrategien verhindern einen Kontakt im Hier und Jetzt. Sie behindern Wachstum und Veränderung. Sie behindern uns dabei, neue Erfahrungen von tiefer Intimität in unseren Beziehungen zuzulassen und im Umgang mit unseren Gefühlen authentisch zu sein. Vermeidung verhindert, neue Möglichkeiten zu erforschen, wie wir unsere Gefühlswelt in einem sicheren Container in uns halten können. Dies ist nicht im Sinne eines Festhaltens an Altem und Überholtem gemeint. Es ist gemeint, als ein sicherer Hafen - gleich einem Gefäß in uns, in dem wir gut mit der ganzen Vielfalt unsere Gefühle sein können, ohne irgendetwas zu verstecken, ohne diese aus zu agieren - und ohne etwas tun zu müssen.

SEIN - in und mit mir. Mitfühlend. Mit einem berührbarem Herzen.

Durch den Kontakt mit einem uns zugewandten Menschen (der/die nicht meint uns verändern oder retten zu müssen, sondern berührbar sein kann), können wir alte, zum Teil pathologische Bindungsmuster erkennen und die heilende Kraft von "in Beziehung sein" erfahren.

Es sind die bewussten Schritte in unbekanntes Terrain, welche neue Erfahrungen möglich machen - am Rande der Komfortzone. Und es ist immer wieder eine Entscheidung. Der Sog der alten Reaktionsmuster ist groß. Hilfreich und kostbar für eine Veränderung ist ein Umfeld, in dem wir uns willkommen fühlen, und in dem wir Schritte im eigenen Tempo wagen können, um uns mit neuen Möglichkeiten auszuprobieren. Ein Umfeld, welches uns darin unterstützt, Gefühle zu navigieren und welches uns ermöglicht, wohlwollende, ehrliche Rückmeldungen in einem sozialen Kontext zu erhalten.

Unser Nervensystem braucht Erfahrungen, um zu lernen. Unsere psychische Widerstandskraft (**Resilienz) wächst durch gute und gesunde Beziehungen zu und mit anderen Menschen. Der Kontakt mit anderen in Verbindung mit uns selbst ist das Übungsfeld, gleich einem Trainingslager für unser Nervensystem. Resilienz kann Mensch sich nicht anlesen. Wir brauchen Erfahrungen darin, schwierige Situationen besser und sicherer bewältigen zu können.

Die gute Nachricht: Solange wir leben, sind neue und heilsame Erfahrungen möglich.

Und ja...Wunden, die durch Kontakt oder den mangelnden Kontakt entstanden sind, heilen zumeist auch nur im Kontakt. Wir sind soziale Wesen und wir brauchen Verbindung im gegenseitigen Miteinander, um heiler und ganzer zu werden.

Für ein Leben in Kontakt und Leidenschaft.

SAbine

** Resilienz. Zum Verständnis für Resilienz finde ich das Bild von Gras sehr anschaulich. Gras besitzt die Fähigkeit, sich nach niederdrückenden Erfahrungen wieder aufzurichten - wieder in einen ausbalancierten Zustand zurückzufinden.